Erzählerin |
Die Geschichte spielt vor
etwa hundert Jahren in einer russischen Stadt. Sie
handelt von einem alten Schuster. Er hieß Martin
und wohnte im Keller eines Hauses. Das Fenster seiner
kleinen Werkstatt führte nach oben auf die
Straße. Wenn Martin aus dem Fenster schaute,
konnte er an den Füßen sehen, wer
vorüberging. Denn in der ganzen Umgebung gab es
kaum ein Paar Schuhe, das er nicht geflickt hatte. Je
älter Martin wurde, desto mehr beschäftigte er
sich mit Gott. Er hatte seine Frau schon in jungen
Jahren verloren. Auch seine Kinder waren alle schon
früh gestorben. Martin konnte nicht verstehen,
warum Gott das zugelassen hatte. Er begann, an Gott zu
zweifeln. Eines Tages bekam Martin Besuch von einem Bauern. Martin klagt ihm sein Leid. |
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Martin |
„Warum tut Gott das
nur? Warum nimmt er mir alle, die ich lieb habe? Ich
wollte, ich wäre tot.“ |
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Bauer |
„Wir haben kein Recht über Gott zu urteilen. Wenn du an Gott zweifelst, dann kommt das daher, dass du immer nur an dich denkst. Du sollst aber auch an Gott denken. Du sollst für ihn leben.“ | ||
Martin |
Martin: „Ha, wie lebt man denn für Gott?“ | ||
Bauer |
„Kauf dir eine Bibel und lies darin. Dann wirst du es schon erfahren.“ | ||
Erzählerin |
Von nun an las Martin jeden Abend in der Bibel. Was er dort las, das berührte ihn. Eines Abends hat er das Lukas - Evangelium aufgeschlagen. Er liest, dass manche Menschen Jesus gerne hatten. Andere jedoch lehnten ihn ab. Und Martin überlegte, wie er denn Jesus aufnehmen würde. Schließlich liest er in der Bibel weiter und sagt: | ||
Martin |
„Hier steht: „Wer dich bittet, dem gib.- Denk nicht an dich selbst, sondern an die anderen, die Armen.“ | ||
Erzählerin |
Martin nimmt seine Brille ab und versinkt in Nachdenken. Plötzlich hört er eine Stimme. Es ist Gottes Stimme. Gott kündigt an, Martin am nächsten Tag zu besuchen. | ||
Lied |
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Erzählerin | Am nächsten Morgen vor
Tagesanbruch steht Martin auf, spricht sein Morgengebet,
macht Feuer im Ofen, setzt eine Suppe auf, bindet seine
Schürze um und setzt sich ans Fenster an seine
Arbeit. Draußen geht ein alter Soldat mit einem Besen in der rechten Hand vorbei. Es ist Stephan, ein alter und kranker Mann. Stephan fegt vor Martins Fenster den Schnee weg. Martin erkennt, dass das Schneefegen für den alten Stephan viel zu schwer ist. Martin geht zur Tür, öffnet sie und winkt Stephan zu sich. |
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Martin | „Komm herein, Stephan, und wärm dich ein bisschen auf. Du frierst doch sicher.“ | ||
Stephan |
„Gott wird es dir lohnen. Ich friere tatsächlich am ganzen Körper.“ | ||
Erzählerin | Martin und Stephan setzen sich an einen kleinen Tisch in der Werkstatt. Martin schenkt Stephan und sich heißen Tee ein. | ||
Martin |
„Trink nur, es wird dir gut tun.“ | ||
Stephan |
„Ich danke dir, Martin. Du bist ein gütiger Mensch. Du hast selbst nicht viel und teilst trotzdem mit anderen.“ | ||
Erzählerin | Nach einer Weile steht Stephan auf. Ihm hat die warme Stube gut getan. Langsam geht er zur Türe. | ||
Martin |
„Komm nur wieder, du bist stets willkommen.“ | ||
Erzählerin | Martin setzt sich wieder an seine Arbeit. Er schaut immer wieder zum Fenster hinaus und denkt an den Traum, den er in der vergangenen Nacht gehabt hat. Gott wollte ihn doch besuchen. Aber bisher ist er nicht gekommen, denkt Martin. | ||
Lied |
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Erzählerin | Vor Martins Fenster geht eine Frau in Wollstrümpfen und Bauernschuhen vorbei. Sie bleibt an der Hausmauer stehen. Martin schaut sich die Frau genauer an. Er sieht, dass sie eine Fremde ist. Sie hat ein altes, abgetragenes Kleid aus Sommerstoff an und hält ein Kind auf dem Arm. Durch das Fenster hört Martin, wie das Kind schreit. Die Mutter versucht es zu beruhigen. Da geht Martin zur Türe hinaus und ruft: | ||
Martin | „Junge Frau! Was stehst du mit deinem kleinen Kind hier draußen in der Kälte? Komm herein und wärm dich etwas auf. | ||
Erzählerin | Die Frau ist ganz erstaunt. Sie sieht einen alten Mann, der sie in seine Wohnung bittet. Zögernd folgt sie ihm. Martin führt die Frau in seine Werkstatt. | ||
Martin | „Setze dich hier zum Ofen und wärm dich etwas auf. Du und dein Kind - ihr seht ja ganz verfroren und hungrig aus.“ | ||
Junge Frau |
„Seit gestern haben wir nichts mehr gegessen. Ich habe kein Geld mehr und kann kein Essen kaufen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“ | ||
Erzählerin | Martin schüttelt den Kopf und geht zum Ofen. Er schöpft Suppe in einen Teller, stellt ihn auf den Tisch und legt einen Löffel daneben. | ||
Martin |
„Iss das. Ich passe solange auf den Kleinen auf. Ich habe selbst Kinder gehabt und weiß, wie man mit ihnen umgeht. Wenn du gegessen hast, kannst du deinem Kind auch etwas Suppe geben. Es ist genug da.“ | ||
Erzählerin | Die Frau macht das Kreuzzeichen und fängt an zu essen. Martin spielt derweil mit dem Kind. Während die Frau isst, erzählt sie, wer sie ist und woher sie kommt. | ||
Junge Frau |
„Ich bin eine Soldatenfrau. Mein Mann ist fort. Ich habe seit Wochen keine Nachricht von ihm. Ich war Köchin. Aber als ich das Kind bekam, hat man mich fortgeschickt. Und so irre ich seit Tagen durch die Straßen.“ | ||
Martin | „Hast du nichts Wärmeres anzuziehen als das Kleid da?“ | ||
„Wo soll ich warme Kleider hernehmen? Gestern habe ich meinen Mantel verkaufen müssen, um von dem Geld Essen kaufen zu können.“ | |||
Erzählerin | Nachdem die Frau gegessen und ihr Kind gefüttert hat, steht sie auf. Sie nimmt ihr Kind auf den Arm und will gehen. Auch Martin steht auf. Er nimmt seine Jacke vom Haken und gibt sie der Frau. | ||
Martin | „Hier. Sie ist zwar alt, aber ich habe nichts Besseres.“ | ||
Die Frau sieht die Jacke an, sieht den Schustermeister an, nimmt die Jacke und wickelt ihr Kind darin ein. | |||
„Gott lohnt es dir. Er hat mich wohl vor dein Fenster geschickt. Sonst wären ich und das Kind sicherlich verhungert und erfroren.“ | |||
Erzählerin | Aus seiner Schürze holt Martin ein bisschen Geld und gibt es der Frau. Dann begleitet er sie zur Tür. Anschließend geht er in seine Werkstatt und setzt sich an seine Arbeit. Dabei blickt er immer wieder durch das Fenster nach draußen und fragt sich, wann Gott denn nun endlich zu Besuch kommt, wie er es versprochen hat. | ||
Lied | |||
Erzählerin | Schließlich beobachtet
Martin eine alte Marktfrau, die vor seinem Fenster
stehenbleibt. Sie trägt einen Korb mit Äpfeln
in ihrer linken Hand. Der alten Frau sieht man an, dass
sie erschöpft ist. Sie stellt den Korb mit den
Äpfeln auf den schneebedeckten Boden, um sich etwas
auszuruhen. Da taucht plötzlich ein Mädchen
auf, nimmt einen Apfel aus dem Korb und will
davonlaufen. Aber die alte Frau hat das Mädchen
bemerkt. Sie dreht sich um und packt es am Ärmel.
Das Mädchen strampelt und will sich
losreißen, aber die Frau hält es mit beiden
Händen fest. Martin kann sich das nicht länger mit ansehen und läuft auf die Straße hinaus. |
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Martin | „Lass das Mädchen doch laufen!“ | ||
Es laufen lassen? Das Mädchen wollte mir einen Apfel stehlen. Ich werde es zur Polizei bringen.“ | |||
Martin | „Ich bitte dich, lass das Kind laufen. Es wird es nie wieder tun, da bin ich mir sicher.“ | ||
Erzählerin | Da lässt die alte Frau das Mädchen los. Dieses will sich davonmachen. Martin jedoch hält es fest. | ||
Martin | „Ich habe dich dabei beobachtet, wie du den Apfel aus dem Korb genommen hast. Entschuldige dich gefälligst dafür bei der Frau.“ | ||
Mädchen | „Entschuldigung.“ | ||
Erzählerin | Der Schustermeister nimmt einen Apfel aus dem Korb, bezahlt ihn und gibt ihn dem Mädchen. | ||
Marktfrau |
"Das Mädchen hat einen Denkzettel verdient, den es nicht so schnell wieder vergisst. Stattdessen schenkst du ihm einen Apfel. Ich verstehe dich beim besten Willen nicht. | ||
Martin | „Ach, alte Frau. So denken wir alle, aber Gott denkt anders. Gott will, dass wir vergeben.“ | ||
Marktfrau |
„Na ja, es war nur ein Apfel. Und das Kind hat sich ja auch bei mir entschuldigt. Vergessen wir die ganze Sache!“ | ||
Erzählerin | Als die Frau den Korb aufheben und nach
Hause tragen will, springt das Mädchen herbei und
nimmt der alten Frau den Korb ab. |
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Mädchen |
„Komm,
Großmutter, ich helfe dir beim Tragen.“ |
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Erzählerin |
Martin geht wieder in seine
Werkstatt. Es ist Abend geworden. Er denkt an den Traum,
den er in der vergangenen Nacht gehabt hat. Gott hatte
versprochen, zu Besuch zu kommen. Aber er ist nicht
gekommen. Traurig holt Martin seine Bibel, schlägt
sie auf und liest: |
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Martin |
„Denn ich bin hungrig
gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich in euer Haus aufgenommen. Alles, was ihr für andere Menschen tut, das tut ihr für mich. Hm, darüber muss ich nachdenken. (Stille!) Wenn ich es mir recht überlege, hat Gott mich doch besucht.“ |
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Erzählerin | Gott hat sein Versprechen
gegenüber Martin wahr gemacht. Er hat ihn besucht
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